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Wildes Sammelsurium und Notizen zur Ästhetik des Virtuellen

Disclaimer: Dieser Beitrag ist eine absolute Baustelle und Work in Progress.

Medienästhetik ist ein Begriff, der gerade im Hinblick auf den aktuellen Zeitgeist sehr frei um sich geworfen wird. Umso wichtiger scheint es mir, dass ich mir die Begriffsgeschichte etwas genauer ansehe.

Was ich bisher herausgefunden habe:

  • Der Begriff selbst ist noch relativ jung – tatsächlich nachweisbar ist er im deutschen Sprachraum seit den frühen 1990er Jahren, relativ parallel mit dem Aufkommen des PCs im Sinne einer Multimedia-Experience und der breiteren Verwendung des Internets durch die Bevölkerung (vgl. Schröter 2013: 88, Volltext kostenlos hier)
  • Medienästhetik ist eng verknüpft mit dem Begriff der Wahrnehmung (eine Übersicht dazu findet sich hier). Die genaue Ausdifferenzierung zum Rezeptionsbegriff ist noch ein größeres ToDo für mich.
  • Es scheinen sich zwei grundsätzliche Typen der Medienästhetik herauszukristallisieren.
  • Bezieht man sich auf die Ästhetik, so scheint es eine “klassische” Ästhetik zu geben, die die “sinnliche Erkenntnis” adressiert, also letztendlich Wahrnehmung als einseitige Botschaft der Umwelt an den Rezipienten.
  • Bezieht man sich dagegen auf den neueren Ästhetikbegriff, so ist Wahrnehmung selbst ein interaktiver Prozess, der nicht nur mit der Sendung von Reizen der Umwelt an den Rezipienten abgeschlossen ist, sondern auch postuliert, dass die Rezipienten selbst ein individuelles (mentales) Modell der Wahrheit aufbauen. Wahrnehmung also als produktiver, schöpferischer Akt anzusehen sei.

Schröter (2013: 91) unterscheidet zwischen einer Medienästhetik “starken Typs” (Typ I) und einer Medienästhetik “schwachen” Typs (Typ II). Ferner führt er einen dritten Typ (“mittlerer Typ”) ein, der sich aus einer Teilmenge von Typ I und II ergibt. Die Medienästhetik des starken Typs (Typ I) nimmt Baudrillards Konzept des Simulacrums (”Der symbolische Tausch und der Tod”), der konstatiert, dass letztendlich die gesamte Wirklichkeit als Simulation (oder genauer: als Trugbild) aufgefasst werden kann. Damit einhergehend kann Medienästhetik als Ästhetik der Simulation angesehen werden. Mit der Auffassung, dass die Wirklichkeit und Simulation ohnehin nicht mehr zu trennen ist, vertritt die Medienästhetik des Typus I die Meinung, dass mit ihr eine neue Leitwissenschaft geschaffen wurde, die noch vor der Erkenntnistheorie Deutungshoheit besitze. Die Medienästhetik des schwachen Typs (Typ II) positioniert sich dagegen: Es gebe sehr wohl eine nicht ästhetisierte Wirklichkeit. Simulation ist erst dann Ästhetik, wenn es um die Art der Simulation geht.

Kommentar dazu: Kann man hier von “Inszenierung” sprechen? Medienästhetik = Einsatz eines Mediums für die ästhetische Wahrnehmung. Das Mittel (Schröter spricht von “Medium”) der Darstellung erscheint in der Exposition (Schröter spricht von “Darstellung”).

Simulation: Nachbau der physikalischen Realität (genauer: erschafft Entitäten, die so tun als wären sie das Referens, allerdings immer innerhalb eines semiotischen Paradigmas.) vgl. Esposito 1998: 270 (Elena Esposito – Fiktion und Virtualität)

Virtualität: Mentales Modell einer Realität (muss nicht der physikalischen entsprechen). Löst die starre Verbindung innerhalb des semiotischen Dreiecks auf – die virtuelle Entität braucht nicht notwendigerweise einen physikalischen (realistischen) Gegenpart. –> Deutlich reichhaltigere Inhalte im Vergleich zur Simulation möglich

Fiktion: Autonom von Realität (neuzeitliche Entwicklung).

Imagination: Die Symbolisierung des (unartikulierbaren) Imaginären

Ich stecke gerade in meinen Überlegungen etwas fest. Grundsätzliche These meines Projektes ist, dass die Raumkonstruktionen zwischen Fiktion (= imaginäre Räume der Literatur) und Virtual Reality (= virtuelle Räume der Technik) Kongruenzen aufweisen.

Gerade lese ich den Text von Negativität und Identifikation – Versuch zur Theorie der ästhetischen Erfahrung (Jauß 1975), in dem sich auf einer sehr fundamentalen Basis mit der Dichotomie Genuss vs. Arbeit/Erkennen/Handeln auseinandergesetzt wird.

Das genießende Verhalten, das Kunst auslöst und ermöglicht, ist die ästhetische Erfahrung par excellence […]; sie muß wieder Gegenstand theoretischer Reflexion werden, wenn es darum geht, die ästhetische Praxis des produktiven, rezeptiven und kommunikativen Verhaltens neu zur Geltung zu bringen.

(Jauß 1975: 272)

Damit ist also postuliert, dass Genuss eine zentrale Instanz für das ästhetische Erleben (= Rezeptionsästhetik?) darstellt.

Auf Seite 275 schreibt er dann weiter, dass im allgemeinen Sprachgebrauch es einen grundsätzlichen Gegensatz zwischen Genuss einerseits und Arbeit, Handeln und Erkennen andererseits gebe. Zwar schwächt er diese absolute Aussage etwas ab, indem er Handeln und Erkennen erst durch die Autonomie der Kunst (= Herauslösen der Kunst aus der Einbettung in das Weltbild der Gesellschaft) als klare Dichotomie benennt. Dass Arbeit jedoch seit jeher dem Genießen gegenüber steht, steht für Jauß allerdings unzweifelhaft fest. Warum ist diese Geschichte nun ein Problem für das hier projektierte Vorhaben?

Virtual Reality zeichnet sich gegenwärtig durch die hohen Interaktivitätsniveaus aus. Interaktion kann als zielgerichtetes Handeln verstanden werden. Damit würde der Analyserahmen des Genusses (und mit dem Genuss eben auch der prominenteste Stellvertreter des ästhetischen Erlebens!) für Virtual Reality wegfallen. Kann damit VR überhaupt mit den Mitteln der Ästhetik weiter untersucht werden?

Zumal sehr viele Nutzer, besonders im Kontext des Gaming als auch im Engineering einer konkreten Aufgabe nachgehen, die als Arbeit zu werten ist.

Wie formt sich eigentlich ein gemeinsamer “Geschmack”, der von einer breiten Nutzerschicht geteilt wird? Zugriff auf diese Frage eröffnet etwa die Ästhetikforschung, die konstatiert, dass sich die ästhetische Urteilsbildung als ständiger Diskurs (oder Dialektik?) offenbahrt. Zimmermann (1978: 235) schreibt dazu:

Der dadurch [durch den Diskurs einerseits und den konkreten Formen ästhetischen Erlebens andererseits] in Gang gesetzte Prozeß ästhetischer Urteilsbildung bewegt sich zwischen den Möglichkeiten der „Normerfüllung“ aufgrund eines selbstverständlichen Konsens, der „Normdurchbrechung“ und der „Normbildung“ als Versuch, durch exemplarischen Aufweis und argumentative Begründung zu einem neuen Konsens zu gelangen

Konkret sehe ich an dieser Stelle folgende Parallelen: Bruce Sterling stellt in seinem Roman “Zeitgeist” das Konzept des Major Consensus Narrative (MCN) vor, der sich im Spannungsfeld zwischen der objektiven Wahrheit und dem subjektiven Erleben eines Individuums verortet. (vgl. dazu auch den Vortrag von Frank und Ron auf dem 24C3 (2007): Vortragsfolien und Video auf YouTube). Was beim MCN meines Erachtens etwas zu kurz kommt, ist, dass er für die Weltwahrnehmung von zentraler Bedeutung ist. Nicht nur aus rezipatorischer als auch aus kognitiver Sicht ist es unmöglich, die objektive Realität als Weltbewohner tatsächlich zu verarbeiten. Als kultureller Prozessor hat sich nicht zuletzt darum die Sprache als mentales Modell etabliert. Aus diesem Grund ist hier auch von einem Narrativ die Rede. (vgl. dazu unbedingt auch die Seite 18 auf den Vortragsfolien!) Weiter unten habe ich bereits Lotmans Idee der Kultur als Informationsprozess als auch Kurt Vonneguts Shape of Stories ausgeführt. Könnte man also annehmen, dass Kultur letztendlich auf einen Kanon von Archetypen der Major Consenus Narrative besteht?

In einer Fußnote in Kritik der Urtheilskraft führt Kant auch den Begriff eines sensus communis aestheticus ein (Direktlink).

Die Natur hat kein System, sie hat, sie ist Leben und Folge aus einem unbekannten Zentrum, zu einer nicht erkennbaren Grenze. Naturbetrachtung ist daher endlos, man mag ins Einzelnste teilend verfahren oder im Ganzen nach Breite und Höhe die Spur verfolgen.

Schriften zur Morphologie (Goethe 1823: 347)

Kultur – das ist die Gesamtheit aller nicht vererbten Information zusammen mit den Verfahren ihrer Organisation und Speicherung. […] Die Information ist kein fakultatives Merkmal, sondern sie ist eine der Grundvoraussetzungen menschlicher Existenz. Der Kampf ums Überleben ist – biologisch wie sozial – ein Kampf um Information. […] Aber die Kultur ist nicht einfach ein Informationsspeicher. Sie ist vielmehr ein äußerst komplex organisierter Mechanismus, der Informationen aufbewahrt und – während er dafür beständig die jeweils günstigsten und kompaktesten Verfahren ausbildet – neue Informationen aufnimmt, Mitteilungen codiert und dechiffriert, sie aus einem Zeichensystem in ein anderes übersetzt.

Lotman, Kunst als Sprache, 1981: 26 – Hervorhebungen durch mich

In diesem Zitat Lotmans stecken diverse interessante Aspekte: Zum einen scheint es für ihn vorerst nicht um die Dialektik Natur–Kultur zu gehen, sondern der primäre Antagonist der Kultur kommt aus dem Inneren, wenn er schreibt, dass es eine beständige Diskussion zwischen den Trägern der Kultur und seinen Gegnern gebe (vgl. Lotman 1981: 26). Freilich ist diese Auffassung mitunter dem politisch-sozialen Klima der Sowjetunion (Lotman war Professor in der “Estnischen SSR”) geschuldet, auch wenn er den Terminus Klassenkampf erst später benutzt. Des Weiteren ist die Auswahl und beständige Umcodierung der kulturellen Informationen hervorzuheben, schafft diese Idee doch den Diskussionsraum für die Vorstellung, dass Literatur und Virtual Reality letztendlich “nur” Ausprägungen unterschiedlicher Zeichensysteme der gleichen Information sind.

Weiter unten wurde das Konzept des Erhabenen (oder Sublimen) angesprochen, das sich als Terminus Technicus in der Rhetorik, der Naturbeobachtungen und schließlich der Kunst etabliert hat.

Für die bildende Kunst blieb diese Ausdifferenzierung des rhetorischen und kunsttheoretischen Diskurses zunächst ohne direkte Folgen. Sie orientierte sich eher am Topos des locus terribilis, der in seiner Abgrenzung zum locus amoenus eine ähnliche Semantik wie das Erhabene ausbildete.

Pfisterer 2011: 114

Im Zuge einer produktionsästhetischen Betrachtung im Sinne einer Architektur des locus amoenus schreibt Goebel (1984: 78-90), dass zwar das Konzept des locus amoenus bereits seit der Antike etabliert sei, jedoch ausschließlich als Idealvorstellung eines Ortes in der Literatur und in der Natur. Er zitiert hier den Romanisten E.R. Curtius (Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter 1949: 202), der diesen ideellen Ort in seiner Minimalkonfiguration phänomenologisch zu fassen versucht. So müsse ein locus amoenus mindestens folgende Merkmale aufweisen:

  • einen Baum (oder mehrere Bäume/einen Hain)
  • eine Wiese
  • eine Quelle oder Bachlauf

optional: Vogelgesang, Blumen und einen Windhauch

Für Goebel stellt sich die Frage, ob der locus amoenus auch künstlich (er spricht konkret von Architektur und Landschaftsarchitektur) erzeugt werden kann oder ob eine gewisse artifizielle Komponente mitunter sogar als Voraussetzung zu werten ist, dass ein locus amoenus entsteht. Er kommt allerdings zu dem Zwischenergebnis, dass in der Kreation dieser Orte externe Interessen (Herrschaftsansprüche, Repräsentation, Insignia) als Grundintention größeres Gewicht hatten, als der wahrhaftige Lustort oder, wenn in Ausnahmefällen tatsächlich ein kleines Paradies geschaffen wurde, dass sich diese Kreation letztendlich als Assemblage diverser Zitate zeigte und nicht als kohärenter Ort:

Sie [die Gärten der Renaissance und des Barock] sind gewissermaßen die Signatur des locus amoenus, der durch sie freilich nicht so sehr realisiert, wie zitatweise beschworen wird.

Goebel 1984: 82, Hervorhebung (fett) durch mich

Als finales Resumée zieht er, dass der locus amoenus nicht per se existiere. Er entsteht entweder vollkommen imaginär innerhalb der Raumwelten der Literatur (und Kunst) oder, im Verbund eines geografischen Ortes der durch Literatur oder Kunst mystifiziert wird. (Und selbst diese Aussage schränkt Goebel wieder ein, wenn er davon spricht, dass der locus amoenus nur verwirklichbar/wahrnehmbar im Zitat sei.)

Er führt hier, im letzten Satz seines Textes, den Begriff Architextur ein, ohne ihn näher auszuführen oder zu erörtern.

Die mit diesem Begriff versehenen Konnotationen: Architektur, Text und Textur deuten bereits auf eine bestimmte Phänomenologie hin – so sei hier auf Virilios Konzept des Interfaces – “Interfassade” – als Raumphänomen (vgl. Virilio 2015: 262) erinnert (als deutsche Übersetzung hier zu finden).

Desweiteren könnte der imaginäre Charakter des locus amoenus mit den Mitteln der Rezeptionsästhetik bearbeitet werden.

Eines der bedeutendsten (und vermutlich meistzitiertesten) Bücher über Architektur(-theorie) und Stadtplanung ist A pattern language von Christopher Alexander (Ein Volltext-PDF gibt es zum Beispiel bei der Cornell University hier). Das Buch ist 1977 erschienen und versucht eine generelle Typologie von archetypischen Raumsituationen zu erstellen, um soziale Aspekte der Architektur zu verbessern. Beispielhafte Situationen sind etwa “Licht aus zwei Richtungen”, “Warteplatz” oder “Platz unter Bäumen”.

Bei A pattern language wird also versucht, durch linguistische Systematik (“language”), physikalische Räume zu formatieren. Die Frage ist jetzt, ob und inwiefern sich dieser Prozess auch in der Gegenrichtung denken lässt. Die nachfolgende Liste ist absoluter Work in Progress.

Gedanke 1:

Führt die Typologie der Sprache zwangsweise zu bestimmten Raumkonstruktionen (à la: was nicht bezeichnet werden kann, ist auch nicht gestaltbar), die sich auch auf nicht-sprachliche Medien (Architektur, Games, Virtuelle Realitäten) auswirken? Mögliche Korrelationen lassen sich mitunter auch mit Vonneguts “Shape of Stories” bilden.

Gedanke 2:

Die objektive Realität beeinflusst den Zeichenschatz, der für virtuelle Welten zur Verfügung steht (vgl. Diskussion über Simulation vs. Virtualität). Realität “typologisiert” also Virtualität. Genauer: Die semiotische Verarbeitung und Klassifikation der Realität (“Schema”, “Zeichen”) kann als Typologisierung der VR angesehen werden. Aus diesem Diskurs lässt sich auch das Phänomen begründen, dass virtuelle Welten gemeinhin mit dem Maßstab der Realwelttreue beurteilt werden.

Update

Tatsächlich müsste man diese Gedanken auch ins Verhältnis zum romantischen Motiv der Inkommensurabilität setzen.

The ultimate display would, of course, be a room within which the computer can control the existence of matter. A chair displayed in such a room would be good enough to sit in. Handcuffs displayed in such a room would be confining, and a bullet displayed in such a room would be fatal.

Ivan Sutherland (Proceedings of IFIP Congress, S. 506-508, 1965) Onlineversion hier.

Neben Haptik ist in Sutherlands Vorstellung also auch die Konsequenz ein wichtiges Faktum innerhalb des Ideals des Ultimativen Displays. Hier lässt sich dann auch die Trennlinie zum Spiel als deskriptive Methode der VR ziehen, weil gerade das Spiel zwar Techniken der objektiven Realität nachahmt, aber Konsequenzen nur innerhalb des Spielraums zulässt.

Why should a man be scorned if, finding himself in prison, he tries to get out and go home? Or if, when he cannot do so, he thinks and talks about other topics than jailers and prison-walls?

J.R.R. Tolkien: On fairy tales

Der bereits der bildendenden Kunst und der Literatur vorgeworfene Eskapismus kann mit Sicherheit auch auf Virtual Reality übertragen werden.