Zum Erhabenen und zur Überforderung in VR
Das Eintauchen in VR-Umgebungen ist für die meisten Nutzer ein einschneidender Prozess: Ein Großteil der Leute ist zunächst furchtbar überfordert mit der Umgebung. Jede kleinste, bisher unbemerkte, Kopfbewegung, schafft neue Inhalte, eine Welt voll unglaublicher Möglichkeiten liegt vor ihnen.
In einer ersten Überlegung habe ich die etwas diffuse (und demnächst im Rahmen meines Aufsatzes Plädoyer für eine Ästhetik des Virtuellen publizierte) Theorie der ständigen Überforderung aufgestellt, in der ich davon ausgehe, dass die Nutzer in Virtual Reality ständig kognitiv überlastet sind und daher die Umgebung wesentlich stärker mittels Zeichenverarbeitung rezipieren (vgl. dazu auch Rul Gunzenhäusers Aufsatz zur kybernetischen Ästhetik von 1962: Informationstheorie und Ästhetik – Aspekte einer kybernetischen Theorie ästhetischer Prozesse).
Jetzt fällt mir durch reinen Zufall endlich der korrekte Begriff innerhalb der ästhetischen Theorien in die Hände: Erhabenheit.
Der Begriff hat eine durchaus respektable Geschichte hinter sich; einen guten Überblick liefert Pfisterer im Metzler Lexikon Kunstwissenschaft: Ideen, Methoden, Begriffe, ein PDF als Auszug findet sich hier).
Grundsätzlich lässt sich Erhabenheit mit folgendermaßen einordnen:
- Überforderung durch übergroße, überwältigende Phänomene
- ein gemischtes Gefühl von Unlust und Lust (Kant wird später diese Dichotomie als Kontinuum weiterentwickeln und streng rezeptionsästhetisch verorten: Die Unlust wird durch die wahrgenommene Unbezwingbarkeit der Eindrücke hervorgerufen, die Lust resultiert aus der Erfahrung, sobald die Eindrücke durch Schemata verarbeitet und in ein kohärentes Weltbild integriert werden können.)
- Das Ereignis, das Erhabenheit evoziert, tritt plötzlich und unmittelbar auf (gerade hier sei auf die Parallelen zu VR verwiesen, wenn durch das Aufsetzen des Head Mounted Displays der Übergang zwischen objektiver und virtueller Realität statt findet)
- in der Begriffsgeschichte wurde der Terminus zunächst für den rhetorischen Stil, dann zur Beschreibung von Naturbeobachtungen und schließlich für Kunstwerke verwendet.
Im Vorwort der gesammelten Ausgabe der Schiller'schen Briefe schreibt der Herausgeber (Arthur Jung):
Hieran schließt sich Schiller's Ansicht über das Erhabene wie er sie in jenem Aufsatz niedergelegt hat der vielleicht für das großartigste Denkmal seines Geistes in ungebundener Rede gelten kann. Ganz in Uebereinstimmung mit Kant, dessen Meinung über diesen Gegenstand wir kennen gelernt haben, nennt Schiller das Gefühl des Erhabenen eine Zusammensetzung von Wehsein und Frohsein.
Jung (1875), S. 36 (Volltext bei Google Books)