Feuchte Mondesstrahlen

In Hoffmanns Der Sandmann findet sich eine neuralgische Stelle, in der Protagonist Nathanael seine Angebetete Olimpia (die sich später als Roboter, als Automat herausstellt) durch ein Perspektiv beobachtet. Bei dieser Beobachtungsszene richtet Nathanael seinen mittels Fernrohr ›augmentierten‹ Blick auf die (Glas-)Augen Olimpias, was zu folgender Beschreibung führt:

Nun erschaute Nathanael erst Olimpia's wunderschön geformtes Gesicht. Nur die Augen schienen ihm gar seltsam starr und todt. Doch wie er immer schärfer und schärfer durch das Glas hinschaute, war es, als gingen in Olimpia's Augen feuchte Mondesstrahlen auf. Es schien, als wenn nun erst die Sehkraft entzündet würde; immer lebendiger und lebendiger flammten die Blicke.

Hoffmann 1817, S. 53 (Volltext beim Deutschen Textarchiv)

Diese Passage lässt sich nun einerseits als typisch romantischer Kitsch abtun, sie lässt sich aber auch unter psychoanalytischen Gesichtspunkten als Somnambulismus des Protagonisten lesen (wie es etwa Sigmund Freud mit seinem Aufsatz Das Unheimliche unternimmt).

Ich möchte diese Passage aber unter einem medientheoretischen Vorzeichen lesen – schließlich gebraucht Nathanael dezidiert ein optisches Instrument für seine Beobachtungen. In meiner Dissertationsarbeit bringe ich diese Beobachtungsszene mit Jean Pauls Gleichnis des Aetherblaus in Verbindung (vgl. Jean Paul 1804, S. 33), aber hier möchte ich insbesondere den Aspekt der ›Mondesstrahlen‹ herausgreifen, den Hoffmann später auch mit den himmelblauen Augen von Nathanaels ›echter‹ Geliebten Clara kontrastiert.

Ich meine aber auch zu erkennen, dass Hoffmann mit den ›Mondesstrahlen‹ eine spezifische Ästhetik von optischen Instrumenten beschreibt. Dazu einen kurzen Exkurs: Ein Fernrohr oder ein Teleobjektiv schöpft, stark vereinfacht ausgedrückt, seinen Vergrößerungsfaktor unter anderem aus dem Abstand von Objektiv- und Okularlinse. Nachdem man den ›Tubus‹, also das ›Rohr‹ aus Gründen der Handhabbarkeit (und einer Vielzahl von anderen optischen Phänomenen) nicht unendlich lang bauen kann, stellte man schon früh fest, dass sich der Strahlengang auch durch Spiegel innerhalb des Tubus verlängern lässt. Unter anderem findet sich im Zedler'schen Lexikon eine Beschreibung dieses Aufbaus.

Das Besondere an dieser Bauform ist, dass sich die Ästhetik des Bildes deutlich ändert: Während ein reguläres Teleobjektiv im Unschärfebreich eine möglichst homogene Unschärfe erzeugt (›Bokeh‹), finden sich bei einem Spiegelteleobjektiv charakteristische ›Donuts‹ an sämtlichen Lichtquellen wieder. Ich habe dieses Phänomen mit nachfolgendem Foto kurz visualisiert:

Links im Bild: Aufnahme mit einem regulären Teleobjektiv (Brennweite: 300mm, Blende f/6.3, gecroppt). Rechts im Bild: Aufnahme mit einem Spiegelteleobjektiv (Brennweite: 500mm, Blende: f/6.3)

Möglicherweise beschreibt Hoffmann also in der Passage im Sandmann auch den Effekt einer besonderen Bauform des Fernrohrs, denn die ›Donuts‹ eines Spiegelteleobjektivs nehmen die Form eines Halbmonds ein, sobald der Betrachungswinkel durch Objekte im Vordergrund nicht mehr optimal ist. Deutlich wird dieser Effekt etwa im Bild unten, das den Unschärfebereich einer spiegelnden Wasseroberfläche bei tiefstehender Sonne zeigt:

Beide Bauformen waren zu Zeiten Hoffmanns in Gebrauch. Die Bauform mit Spiegeln wurde immer dann verwendet, wenn etwa extreme Vergrößerungsfaktoren nachgefragt wurde, wie etwa beim Newton'schen Teleskop – oder, wenn eine besonders kompakte Bauform des optischen Instruments umzusetzen war (wie es beispielsweise bei Nathanaels Fernrohr der Fall ist).

Zurück zu Hoffmanns Sandmann: Es stellt sich später heraus, dass die ›Augen‹ Olimpias aus Glas bestehen und vom gleichen zwielichtigen Mechanicus hergestellt wurden, der Nathanael das ›Perspektiv‹, das Fernrohr verkauft. Damit bilden Olimpias Augen entweder eine Linse oder einen Spiegel – und sind damit ein Bestandteil eines ›impliziten Fernrohrs‹, das eine endlose Projektion und Reflexion zwischen Nathanaels Fernrohr und Olimpias Augen realisiert.