Ein Kognitionsmodell von 1814
Um 1800 war der sogenannte Mesmerismus sehr in Mode: Ein wildes Konglomerat aus Naturwissenschaft, früher Psychologie, Traumdeutung und auch etwas Okkultismus. Auch wenn die Schriften mittlerweile stets vor der Folie der Scharlatanerei gelesen werden, finden sich in den Publikationen sehr interessante Passagen.
So schildert etwa Gotthilf Heinrich von Schubert in seiner Monografie Die Symbolik des Traumes folgendes Wahrnehmungsmodell:
Das Thier bestehet aus Seele und Leib der Mensch aber ist Geist Seele und Leib zugleich. Wie der verbrennende Körper dessen Licht über einen weiten Kreis hinüber Alles erhellet und offenkundig macht, an sich selber nichts von dem weiß und erkennt, was sein Licht offenbart, sondern erst das erkennende und verstehende Auge; wie die Durchsichtigkeit zwar auch eine niedere Art von Sehen ist, aber kein eignes, selbstständiges, sondern erst durch das und in dem dahinter stehenden Auge zu einem solchen wird; so weiß auch die Seele an sich selber nichts von der ganzen wundervollen Welt, die sich während der Zustände ihres Hellsehens in ihrem Lichte spiegelt. Auf der andern Seite gleicht aber auch der Geist, in seinem jetzigen Zustande der Gebundenheit an Seele und Leib einem Wanderer im Thale der finstern Nacht, der erst bei dem Lichte der Kerze, welches, ohne selber zu erkennen, die Welt um ihn her erkennbar macht, seinen Weg zu finden und zu sehen vermag, und der von der Gegend umher gerade nur so viel sieht, als das mehr oder minder helle Licht, daß er in seiner Hand trägt, davon beleuchtet. Auch in der Seele des Thieres leuchtet demnach und spiegelt sich alles Das ab, was in der Seele des Menschen, aber es ist kein eigenthümliches, innres Auge da, das sich diese hineinfallenden Strahlen zueignen, sie wahrhaft merken und sehen könnte eben so wie in das durchsichtige Glas zwar alle die Strahlen und Farben auch hineinfallen, welche sich in die durchsichtigen Flüssigkeiten des Auges hineinsenken, aber ohne daß in jenem ein empfindender Nerv, das ohne Rührung hindurchgehende Licht zu erfassen und zu fühlen vermöchte.
Quelle: Schubert 1840: 124–125 (Volltext hier bei Google Books)
Ich zitiere hier die dritte Auflage, weil diese als Volldigitalisat bei Google Books vorliegt. Tatsächlich erschien aber die Erstausgabe des Werks bereits 1814. Und deswegen beschäftige ich mich auch mit dem Werk, weil E.T.A. Hoffmann es direkt in seinem Nachtstück Das öde Haus referenziert.
Warum finde ich den Text so interessant?
- Über 40 Jahre vor der Geburt Sigmund Freuds finden sich bereits belastbare – und aus heutiger Sicht stets noch gültige – psychologische Einlassungen in den Texten.
- Schubert beschreibt ein Kognitionsmodell, das neben dem rein “technischem” Sehvorgang auch eine nachgelagerte “Signalverarbeitung” umfasst. “Sehen” für ihn ist also nicht nur Optik (vgl. etwa Leonardo da Vincis Analogie des menschnlichen Sehapparats mit einer Camera obscura), sondern auch Verständnis. Dabei macht er nicht den Fehler, eine Priorisierung einer der beiden Domänen anzustreben, sondern betont, dass erst im Verbund von Wahrnehmungsorgan und Seele sinnvolle Kognition möglich wird.
Schuberts Ausführungen erinnern mich an Jean Pauls Vorschule der Ästhetik von 1804, in der er sich Gedanken über die Unterschiede zwischen (Ein-)Bildungskraft und Phantasie macht. Einbildungskraft bei Jean Paul entspricht grob dem Modell der unverständigen Wahrnehmung, das Schubert auch den Tieren zuspricht.
Einbildungskraft ist die Prose der Bildungskraft oder Phantasie Sie ist nichts als eine potenziierte helfarbigere Erinnerung welche auch die Thiere haben weil sie träumen und weil sie fürchten. Ihre Bilder sind nur zugeflogne Abblätterungen von der wirklichen Welt
Jean Paul 1804: 31 (Volltext hier bei Google Books)
Phantasie behält Jean Paul dagegen ausschließlich dem Menschen vor:
Aber etwas Anderes ist die Phantasie ober Bildungskraft, sie ist die Welt-Seele der Seele und der Elementargeist der übrigen Kräfte darum kann eine große Phantasie zwar in die Richtungen einzelner Kräfte z.B. des Witzes des Scharfsinns u.s.w. abgegraben und abgeleitet werden, aber keine dieser Kräfte lässet sich zur Phantasie erweitern. Wenn der Witz das spielende Anagramm der Natur ist: so ist die Phantasie das Hieroglyphen-Alphabet derselben, wovon sie mit wenigen Bildern ausgesprochen wird.
Jean Paul 1804: 32 (Volltext hier bei Google Books)