atmosphaere

Wildes Sammelsurium und Notizen zur Ästhetik des Virtuellen

In Die Jesuiterkiche in G. beschreibt E.T.A. Hoffmann wie der Maler Berthold mittels Fackel und Projektion ein planares Raster auf die Kurvatur einer Altarnische überträgt. Durch diese “Brute-Force”-Methode spart er sich eine genaue mathematische Berechnung der notwendigen perspektivischen Verzerrung, sondern löst das geometrische Problem mittels “Raytracing”. Für eine Präsentation habe ich das Prinzip dieser Methode kurz in Blender nachgestellt – deutlich wird, wie stark sich die Rasterlinien teilweise in der Nische verzerren.

Den Punkt, den ich an dieser Stelle aber machen möchte, ist, dass Hoffmann mit der Figur Bertholds keineswegs ein rein mimetisches Abbildungsverfahren thematisiert: Mit den damaligen Medientechniken wäre es zum Beispiel auch möglich gewesen, eine Glasplatte zu bemalen und als ›Dia‹ zu verwenden (siehe Abbildung unten), was eine direkte 1:1-Projektion ermöglichen würde, also eine isomorphe Relation zwischen Ur- und Abbild.

Berthold aber verwendet mit seinen Rasterlinien ein Schattenbild, das sich durch seinen Affordanzcharakter und durch seine Unbestimmtheitsstellen auszeichnet. Analog zum Serapiontischen Prinzip, das Hoffmann in den Serpaions-Brüdern ausbuchstabiert, verhilft Berthold den binären Perspektivlinen zu Farbe, Inkarnation und Ausführung, indem er zwischen den Punkten interpoliert.

In Hoffmanns Der Sandmann findet sich eine neuralgische Stelle, in der Protagonist Nathanael seine Angebetete Olimpia (die sich später als Roboter, als Automat herausstellt) durch ein Perspektiv beobachtet. Bei dieser Beobachtungsszene richtet Nathanael seinen mittels Fernrohr ›augmentierten‹ Blick auf die (Glas-)Augen Olimpias, was zu folgender Beschreibung führt:

Nun erschaute Nathanael erst Olimpia's wunderschön geformtes Gesicht. Nur die Augen schienen ihm gar seltsam starr und todt. Doch wie er immer schärfer und schärfer durch das Glas hinschaute, war es, als gingen in Olimpia's Augen feuchte Mondesstrahlen auf. Es schien, als wenn nun erst die Sehkraft entzündet würde; immer lebendiger und lebendiger flammten die Blicke.

Hoffmann 1817, S. 53 (Volltext beim Deutschen Textarchiv)

Diese Passage lässt sich nun einerseits als typisch romantischer Kitsch abtun, sie lässt sich aber auch unter psychoanalytischen Gesichtspunkten als Somnambulismus des Protagonisten lesen (wie es etwa Sigmund Freud mit seinem Aufsatz Das Unheimliche unternimmt).

Ich möchte diese Passage aber unter einem medientheoretischen Vorzeichen lesen – schließlich gebraucht Nathanael dezidiert ein optisches Instrument für seine Beobachtungen. In meiner Dissertationsarbeit bringe ich diese Beobachtungsszene mit Jean Pauls Gleichnis des Aetherblaus in Verbindung (vgl. Jean Paul 1804, S. 33), aber hier möchte ich insbesondere den Aspekt der ›Mondesstrahlen‹ herausgreifen, den Hoffmann später auch mit den himmelblauen Augen von Nathanaels ›echter‹ Geliebten Clara kontrastiert.

Ich meine aber auch zu erkennen, dass Hoffmann mit den ›Mondesstrahlen‹ eine spezifische Ästhetik von optischen Instrumenten beschreibt. Dazu einen kurzen Exkurs: Ein Fernrohr oder ein Teleobjektiv schöpft, stark vereinfacht ausgedrückt, seinen Vergrößerungsfaktor unter anderem aus dem Abstand von Objektiv- und Okularlinse. Nachdem man den ›Tubus‹, also das ›Rohr‹ aus Gründen der Handhabbarkeit (und einer Vielzahl von anderen optischen Phänomenen) nicht unendlich lang bauen kann, stellte man schon früh fest, dass sich der Strahlengang auch durch Spiegel innerhalb des Tubus verlängern lässt. Unter anderem findet sich im Zedler'schen Lexikon eine Beschreibung dieses Aufbaus.

Das Besondere an dieser Bauform ist, dass sich die Ästhetik des Bildes deutlich ändert: Während ein reguläres Teleobjektiv im Unschärfebreich eine möglichst homogene Unschärfe erzeugt (›Bokeh‹), finden sich bei einem Spiegelteleobjektiv charakteristische ›Donuts‹ an sämtlichen Lichtquellen wieder. Ich habe dieses Phänomen mit nachfolgendem Foto kurz visualisiert:

Links im Bild: Aufnahme mit einem regulären Teleobjektiv (Brennweite: 300mm, Blende f/6.3, gecroppt). Rechts im Bild: Aufnahme mit einem Spiegelteleobjektiv (Brennweite: 500mm, Blende: f/6.3)

Möglicherweise beschreibt Hoffmann also in der Passage im Sandmann auch den Effekt einer besonderen Bauform des Fernrohrs, denn die ›Donuts‹ eines Spiegelteleobjektivs nehmen die Form eines Halbmonds ein, sobald der Betrachungswinkel durch Objekte im Vordergrund nicht mehr optimal ist. Deutlich wird dieser Effekt etwa im Bild unten, das den Unschärfebereich einer spiegelnden Wasseroberfläche bei tiefstehender Sonne zeigt:

Beide Bauformen waren zu Zeiten Hoffmanns in Gebrauch. Die Bauform mit Spiegeln wurde immer dann verwendet, wenn etwa extreme Vergrößerungsfaktoren nachgefragt wurde, wie etwa beim Newton'schen Teleskop – oder, wenn eine besonders kompakte Bauform des optischen Instruments umzusetzen war (wie es beispielsweise bei Nathanaels Fernrohr der Fall ist).

Zurück zu Hoffmanns Sandmann: Es stellt sich später heraus, dass die ›Augen‹ Olimpias aus Glas bestehen und vom gleichen zwielichtigen Mechanicus hergestellt wurden, der Nathanael das ›Perspektiv‹, das Fernrohr verkauft. Damit bilden Olimpias Augen entweder eine Linse oder einen Spiegel – und sind damit ein Bestandteil eines ›impliziten Fernrohrs‹, das eine endlose Projektion und Reflexion zwischen Nathanaels Fernrohr und Olimpias Augen realisiert.

Kunst als Methode bedeutet, das Experimentelle in den Vordergrund zu rücken. Aber anders als die Naturwissenschaften, für die Falsifikation und Verifizierbarkeit die entscheiden Kriterien sind, die zu Beweisen und überprüfbaren Ergebnissen führen, orientiert sich künstlerische Praxis nicht an der die Fixierung auf Resultate als höchstes Ziel, sondern am Prozesscharakter der kreativen Tätigkeit.

(Schiesser 2005, S. 12; Volltext auf Researchgate)

Ich beschäftige mich gerade mit der ästhetischen Sprache der Rheinromantik. Insbesondere die Bilder von William Turner finde ich besonders interessant, weil bei ihnen die besondere Atmosphäre deutlich wird, die das Jahr ohne Sommer, bedingt durch den Vulkanausbruch des Tambora in Indonesien um 1815, auszeichnete.

Ich habe dazu weiter unten schon mal gebloggt, habe aber jetzt nochmal eine neue Simulationsmethode ausprobiert. Konkret interessiert mich, welche Auswirkungen die Staubteilchen auf die Lichtverhältnisse haben. Dieses Mal habe ich keine generische Landschaft verwendet, sondern die echte Topografie des Rheintals um Boppard (Google Maps) rudimentär in 3D nachgebaut. Auch von Turner gibt es ein Aquarell mit dramatischen, fast hyperrealistischen Himmel, das eine Szene vor dem Stadttor am Rheinufer darstellt. Eine Digitalisierung findet sich hier.

Um ein Gespür für die Lichtverhältnisse zu bekommen, habe ich Bebauung und sonstige Wetterphänomene (Wolken etc.) weggelassen.

So sieht die Szene aus, wenn sich keinerlei Staubteilchen in der Atmosphäre befinden:

Und so sieht die gleiche Szene aus, wenn sich annähernd viele Staubteilchen in der Luft befinden, wie etwa um 1816:

Für diese Simulation habe ich testweise nicht Cycles von Blender benutzt, sondern den Open Source Renderer LuxCore, der auch ein Blender-Plugin besitzt.[1] Das Terrain wurde mittels einer Displacement-Map erstellt, die aus echten Satellitendaten generiert wurde. Früher benutzte ich für diese Daten die Plattform ›terrain.party‹, die leider nicht mehr funktioniert. Als Ersatz hat sich anscheinend https://heightmap.skydark.pl/ etabliert. Bisher bin ich sehr zufrieden, was die Daten angeht.

Zu Simulation der Staubteilchen:

  • Environment Turbidity: 20
  • Volume Scatter: Blender Original Randomness in Volume.

[1]: LuxCore funktioniert aktuell nicht mit der neuesten Version von Blender (auch die Beta-Version des Renderers habe ich nicht mit Blender >3.0 zum Laufen gebracht. Mit Blender 2.93 LTS funktioniert das Plugin aber wunderbar.

Reading List

Update (12-08-2023)

Mir hat das Setup keine Ruhe gelassen, weil sich zwar in den obigen Rendern recht deutlich die Farbverschiebung zeigt, aber die tatsächlichen ›atmosphärischen‹ Effekte (also das ›Scattering‹ in den Aerosol- und Staubpartikeln) außen vor gelassen werden. Zudem fällt auf, dass die Topografie der Landschaft zwar ›stimmig‹ ist, aber zur Beurteilung dann doch etwas Bebauung notwendig scheint. Ich habe deswegen die Szene am historischen Sandtor, die William Turner in seinem Aquarell festhielt, nochmals rudimentär (!) in 3D nachgebaut.

Das Bild, wie es Turner malte:

Bildquelle: Wikimedia Commons (Lizenz: Gemeinfrei), siehe auch Yale Center for British Art

Mein rudimentärer Nachbau in 3D:

Mir ist klar, dass die Perspektiven nicht genau deckungsgleich sind, aber die ungefähre Szenerie wird einigermaßen eingefangen. (Auch die Topografie ist im Moment einfach per Random-Noise mit dem ANT Landscape-Plugin geschaffen, muss also noch auf die originale Landschaft vor Ort angepasst werden.)

Mit diesem Setup ist es nun möglich, mit verschiedenen Wetterphänomenen und Sonnenständen zu experimentieren. Als ersten Versuch, auch um etwas Gespür für die Szene zu bekommen, habe ich eine dramatische Wolkendecke eingezogen, die Sonnenstrahlen in ›God Rays‹ bricht

Als Render-Engine habe ich dieses mal wieder Cycles von Blender verwendet. Aber auch hier ist noch viel Raum für Versuche. Die momentane Atmosphäre ist noch ›ad hoc‹ gebaut, d.h. sie berücksichtigt noch nicht die Begebenheiten um 1816. Nachdem ich für die Himmelssimulation die Nishita-Skymap verwendet habe, ist mein nächster Schritt, das originale Paper von Nishita et al. mit der ermittelten Partikelzusammensetzung um 1816 in Einklang zu bringen. Des Weiteren stimmt der Sonnenstand nicht: In Turners Original fällt die Sonne in einem Winkel von etwa 45° von links oben ein (erkennbar an den ›God Rays‹ im Himmel und am Schattenfall am Gebäude im Vordergrund links). Gleichzeitig ist die Lichtstimmung nochmals deutlich anders: mehr Blauverschiebung und mehr Haze am Boden ist also notwendig.

Aktuelle Einstellungen Skymap

  • sun elevation: (todo: auf ca. 45° erhöhen)
  • sun rotation -82,5° (todo: mit tatsächlicher geografischer Position abgleichen)
  • sun intensity: 0,3 (momentan ad-hoc geschätzt)
  • altitude: 0m (entspricht noch nicht ganz den Begebenheiten: Boppard liegt auf etwa 82 m ü. NHN, sollte aber keine größeren Veränderungen hervorrufen)
  • air: 1.875 (momentan ad-hoc geschätzt)
  • dust: 2.0 (momentan ad-hoc geschätzt)
  • ozone: 4.625 (momentan ad-hoc geschätzt)

Für die Wolken habe ich hier ein wirklich zu empfehlendes Tutorial gefunden.

Update (13-08-2023)

Habe angefangen, den Haze auch am Boden einzusetzen, was definitiv den visuellen Eindruck näher an das Aquarell von Turner heranführt. Dafür habe ich einen Cube mit Volumetric Scattering und einer Noise-Textur über die ganze Szene gepackt:

Gleichwohl entsteht so zu viel Nebel/Dunst im Vordergrund, daher habe ich den Cube etwas skaliert und nach hinten geschoben. (Von Vorteil ist so auch, dass die Renderzeiten etwas abnehmen.) Aus Vogelperspektive sieht die Szene so im Editor aus:

Wird die Szene mit diesem Setup gerendert, dann entsteht langsam der Eindruck, wie er auch bei dem Original vorherrscht.

Sonstige Änderungen an der Szene

  • Sonnenstand korrigiert, Sonne trifft jetzt in einem Winkel von 26,7° ein, was auch einigermaßen glaubwürdige ›God Rays‹ produziert.
  • Remesh des Stadttors: Habe die Skalierung des Turms in der Mitte angepasst, um näher an die Proportionen des Originals zu kommen. Des Weiteren habe ich die Geometrie durch einen Remesh-Modifier neu generieren lassen, um einige Verwitterungen zu sculpten.
  • Arbeite jetzt mit Cycles Fast GI Approximation-Modus, um den Viewport einigermaßen bedienbar zu halten. Renderzeit für ein 1920 x 1080px JPG sind etwa 2 Minuten auf einer RTX 3080ti.
  • Einstellungen an der Sky Texture (im Moment nach wie vor ad hoc):
    • Sun Intensity: 0,900
    • Sun Elevatio: 26,7°
    • Sun Rotation: -91,7°
    • Altitude: 82m (siehe oben)
    • Air: 3,514
    • Dust: 0,0 (Interessante Entwicklung: Diese Funktion wird durch den Scatter Cube anscheinend nicht mehr benötigt.)
    • Ozone: 10,00 (um zumindest etwas Blauverschiebung zu haben)
  • Angefangen, die Gebäude zu texturieren

Update (15-08-2023)

Habe mir die Mühe gemacht, und die Szene rudimentär texturiert. Das Ufer und der Ruinenturm haben zusätzlich eine displacement-Map bekommen und das Wasser erhielt auch eine Überarbeitung. Es setzt sich jetzt aus einer Musgrave-Textur und einem Bump-Node zusammen, die in den Normal-Slot des Principled-BSDF-Shaders geleitet wird. Nach wie vor sehr primitiv, aber wirklungsvoll.

Ich bin nach wie vor mit der Szene unzufrieden, aber es geht voran. Habe, um den Vordergrund auch mit einem leichten Haze zu versehen, einen dritten Volume-Scatter-Cube in die Szene integriert, der zwischen Kamera und Mittelgrund ein subtiles Scattering realisiert.

Alle jemals stattfindenden Veränderungen sind längst von Anbeginn her in jeder Monade oder vielmehr in dem ihr von Gott eingepflanzten Veränderungsgesetze virtuell vorhanden und laufen wie aufgezogene Uhrfedern nacheinander ab. Auf diese Weise wird die ganze reale Welt mit allen wechselnden und bleibenden Zuständen das Abbild einer idealen Welt von Gesetzen in Gottes Verstande.

Leibniz Monadologie (1847, S. 50), Volltext bei Google Books hier. Erstveröffentlichung: 1714

Beschäftige mich gerade mit Sigmund Freuds kurzem Aufsatz Notiz über den ›Wunderblock‹, den er in der Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse veröffentlichte. Der Text ist auch aus medientheoretischer Perspektive spannend, gleichwohl ist es gar nicht so einfach, die Originalquelle ausfindig zu machen. Auf Textlog findet sich zwar der gesamte Text, allerdings stimmt die Quellenangabe auf der Seite offenbar nicht. Freud veröffentlichte den Text NICHT in der Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse, Bd. 10 (1), 1924, S. 1-5, sondern vielmehr in der Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse, Bd. 11 (1), 1925, S. 1-5.

Damit sich zukünftige Leute die Suche nach einer zitierfähigen Originalquelle sparen können: Man findet die Ausgaben der Zeitschrift auch als Scans auf archive.org. Freuds Aufsatz zum Wunderblock ist in diesem PDF aufzufinden, das auch mit OCR ausgestattet ist: Direktlink Wunderblock.

Ich habe die letzten Tage damit verbracht, die Quelle zu einem Zitat aufzuspüren, das Aristoteles zugeschrieben wird. Zuerst habe ich es bei Ryan (2015: 18) gefunden, die mit einer eleganten Satzkonstruktion vermeidet, die Originalquelle zu nennen. Auch sonst findet man recht oft dieses Zitat, wenn Aristoteles Metaphysik besprochen wird – wissenschaftlich etwa hier und new-age-esoterisch etwa hier. Verschiedene Versionen des Zitats lauten

The oak in the acorn.

The nature of the acorn is to become an oak.

Aber: Auch wenn Aristoteles durchaus von Samen und Pflanzen in seiner Metaphysik spricht (vgl. etwa Metaphysik 1032a), kommt darin das Gleichnis der Eichel und der Eiche nicht vor. Stand jetzt gehe ich von einer apokryphischen Zuschreibung aus. Ein äußerst hilfreicher Beitrag findet sich dazu hier.

Die Ästhetik der VR krankt an einem inhärenten Problem des Framings: Anspruch an die Inhalte ist, so zumindest meine Beoachtung, nach wie vor eine möglich mimetische Abbildung der Wirklichkeit. Dieses Credo des Photorealismus, respektive des Naturalismus, ist gegenwärtig der “Benchmark” an dem Inhalte bewertet werden.

Tatsächlich ist diese Ästhetik jedoch, wie Esposito (S. 270) gezeigt hat, eher als Simulation und nicht als Virtualität anzusehen. Das Virtuelle interessiert sich nicht für eine singuläre Zuordnung von Zeichen und Referens, wie es im Naturalismus gegeben ist. Vielmehr geht es im Virtuellen um Potentiale. Diese Potentiale entstehen durch die Interaktion einer Rezipient:in mit den im Werk angelegten Unbestimmtheitsstellen.

Nachdem diese Ästhetik deutlich an die Funktionsweise der Kunst im Sinne Hegels erinnert, lese ich einmal mehr die Philosophie der Kunst oder Ästhetik, eine Mitschrift von Hegels Vorlesung aus dem Jahr 1826. Das Werk findet man bei der Bayerischen Staatsbibliothek im Volltext hier. Vermutlich muss sich VR erst als Medium von dem Diktat der Simulation befreien, indem es als Medium der Kunst wahrgenommen wird. Erst dann sind Inhalte möglich, die sich nicht an ihrem Potential zur Replikation der Natur messen lassen müssen.

Die nachfolgenden Zitate erscheinen mir besonders wichtig: Bereits Hegel stellt fest, dass das “Kunstschöne” und das “Naturschöne” nicht deckungsgleich sind.

Bei der Nachahmung des Natürlichen ist nur der Zweck, daß das Natürliche, wie es ist, unmittelbar nur dargestellt wird nach seiner äußerlichen Erscheinung, und es wird nur die Erinnerung befriedigt.

Hegel 2004: 10

Die Kunst wendet sich an unsere Vorstellung, Anschauung, und es ist gleichgültig, ob von wirklicher Existenz ausgegangen wird, oder von einer Vorstellung, die nur die [...] Kunst gibt.

Hegel 2004: 10

Hegel spricht auch über eine »Einheit der Vernunft und Empfindung« (Hegel 2004: 19), die er in der Philosophie von Schlegel fundiert. Auch Schiller referenziert er. Gerade in dessen 1795 erschienen Abhandlung Über die ästhetische Erziehung des Menschen finden sich interessante Fragmente:

Wird der Formtrieb empfangend, das heißt, kommt die Denkkraft der Empfindung zuvor und unterschiebt die Person sich der Welt, so hört sie in demselben Verhältniß auf, selbständige Kraft und Subjekt zu sein [...]. Sobald der Mensch nur Form ist, so hat er keine Form, und mit dem Zustand ist folglich auch die Person aufgehoben. Mit einem Wort: nur insofern er selbständig ist, ist Realität außer ihm, ist er empfänglich; nur, insofern er empfänglich ist, ist Realität in ihm, ist er eine denkende Kraft.

Quelle: Schiller 1860: Über die ästhetische Erziehung des Menschen, Dreizehnter Brief. Volltext hier auf Google Books (Seite 49).

Um 1800 war der sogenannte Mesmerismus sehr in Mode: Ein wildes Konglomerat aus Naturwissenschaft, früher Psychologie, Traumdeutung und auch etwas Okkultismus. Auch wenn die Schriften mittlerweile stets vor der Folie der Scharlatanerei gelesen werden, finden sich in den Publikationen sehr interessante Passagen.

So schildert etwa Gotthilf Heinrich von Schubert in seiner Monografie Die Symbolik des Traumes folgendes Wahrnehmungsmodell:

Das Thier bestehet aus Seele und Leib der Mensch aber ist Geist Seele und Leib zugleich. Wie der verbrennende Körper dessen Licht über einen weiten Kreis hinüber Alles erhellet und offenkundig macht, an sich selber nichts von dem weiß und erkennt, was sein Licht offenbart, sondern erst das erkennende und verstehende Auge; wie die Durchsichtigkeit zwar auch eine niedere Art von Sehen ist, aber kein eignes, selbstständiges, sondern erst durch das und in dem dahinter stehenden Auge zu einem solchen wird; so weiß auch die Seele an sich selber nichts von der ganzen wundervollen Welt, die sich während der Zustände ihres Hellsehens in ihrem Lichte spiegelt. Auf der andern Seite gleicht aber auch der Geist, in seinem jetzigen Zustande der Gebundenheit an Seele und Leib einem Wanderer im Thale der finstern Nacht, der erst bei dem Lichte der Kerze, welches, ohne selber zu erkennen, die Welt um ihn her erkennbar macht, seinen Weg zu finden und zu sehen vermag, und der von der Gegend umher gerade nur so viel sieht, als das mehr oder minder helle Licht, daß er in seiner Hand trägt, davon beleuchtet. Auch in der Seele des Thieres leuchtet demnach und spiegelt sich alles Das ab, was in der Seele des Menschen, aber es ist kein eigenthümliches, innres Auge da, das sich diese hineinfallenden Strahlen zueignen, sie wahrhaft merken und sehen könnte eben so wie in das durchsichtige Glas zwar alle die Strahlen und Farben auch hineinfallen, welche sich in die durchsichtigen Flüssigkeiten des Auges hineinsenken, aber ohne daß in jenem ein empfindender Nerv, das ohne Rührung hindurchgehende Licht zu erfassen und zu fühlen vermöchte.

Quelle: Schubert 1840: 124–125 (Volltext hier bei Google Books)

Ich zitiere hier die dritte Auflage, weil diese als Volldigitalisat bei Google Books vorliegt. Tatsächlich erschien aber die Erstausgabe des Werks bereits 1814. Und deswegen beschäftige ich mich auch mit dem Werk, weil E.T.A. Hoffmann es direkt in seinem Nachtstück Das öde Haus referenziert.

Warum finde ich den Text so interessant?

  • Über 40 Jahre vor der Geburt Sigmund Freuds finden sich bereits belastbare – und aus heutiger Sicht stets noch gültige – psychologische Einlassungen in den Texten.
  • Schubert beschreibt ein Kognitionsmodell, das neben dem rein “technischem” Sehvorgang auch eine nachgelagerte “Signalverarbeitung” umfasst. “Sehen” für ihn ist also nicht nur Optik (vgl. etwa Leonardo da Vincis Analogie des menschnlichen Sehapparats mit einer Camera obscura), sondern auch Verständnis. Dabei macht er nicht den Fehler, eine Priorisierung einer der beiden Domänen anzustreben, sondern betont, dass erst im Verbund von Wahrnehmungsorgan und Seele sinnvolle Kognition möglich wird.

Schuberts Ausführungen erinnern mich an Jean Pauls Vorschule der Ästhetik von 1804, in der er sich Gedanken über die Unterschiede zwischen (Ein-)Bildungskraft und Phantasie macht. Einbildungskraft bei Jean Paul entspricht grob dem Modell der unverständigen Wahrnehmung, das Schubert auch den Tieren zuspricht.

Einbildungskraft ist die Prose der Bildungskraft oder Phantasie Sie ist nichts als eine potenziierte helfarbigere Erinnerung welche auch die Thiere haben weil sie träumen und weil sie fürchten. Ihre Bilder sind nur zugeflogne Abblätterungen von der wirklichen Welt

Jean Paul 1804: 31 (Volltext hier bei Google Books)

Phantasie behält Jean Paul dagegen ausschließlich dem Menschen vor:

Aber etwas Anderes ist die Phantasie ober Bildungskraft, sie ist die Welt-Seele der Seele und der Elementargeist der übrigen Kräfte darum kann eine große Phantasie zwar in die Richtungen einzelner Kräfte z.B. des Witzes des Scharfsinns u.s.w. abgegraben und abgeleitet werden, aber keine dieser Kräfte lässet sich zur Phantasie erweitern. Wenn der Witz das spielende Anagramm der Natur ist: so ist die Phantasie das Hieroglyphen-Alphabet derselben, wovon sie mit wenigen Bildern ausgesprochen wird.

Jean Paul 1804: 32 (Volltext hier bei Google Books)

Ein wichtiges Konstituens der Poetik in der Romantik stellt ein Fragement von Friedrich (von) Schlegel dar, das er in seiner Zeitschrift Athenaeum veröffentlicht. Konkret geht es um folgenden Text:

Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennte Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen, und die Poesie mit der Philosophie, und Rhetorik in Berührung zu setzen. Sie will, und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig, und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen, den Witz poetisieren, und die Formen der Kunst mit gediegnem Bildungsstoff jeder Art anfüllen, und sättigen, und durch die Schwingungen des Humors beseelen.

Der Text ist hinreichend alt, dass er mittlerweile in die Gemeinfreiheit übergegangen ist. Trotzdem ist es gar nicht so einfach die Originalquelle des Zitats zu finden. Die meisten Wissenschaftler:innen beziehen sich in ihren Ausarbeitungen auf Schlegels Gesamtausgaben von 1967 etc. also Werke, die nicht digitalisiert und – trotz Gemeinfreiheit des originalen Texts! – nicht frei verfügbar sind. Ich halte diese Vorgehensweise für nicht mehr zeitgemäß, denn man findet die originale Ausgabe der Zeitschrift bei Google Books, wenn man etwas sucht. Damit das in Zukunft allen Leidensgenossen etwas einfacher fällt, hier der Link zum Sammelwerk von 1798: Atenaeum Band 1

Vorsicht: Google hat mehrere “Stücke” des Sammelbandes in ein Digitalisat gepackt. Die genaue Position findet sich in der zweiten Hälfte des verlinkten Dokuments im Ersten Band, Zweites Stück, Seite 28.